Drei Nüsse für Malwina
Ein wenig missmutig lief Malwina
den Weg im Park entlang. Den Weg kannte sie in- und auswendig, da sie ihn
schließlich jeden Tag nehmen musste, genauso, wie sie sich jeden Tag fragte, ob
sie wirklich wieder dorthin gehen wollte. Warum tat sie das eigentlich? Nur
wegen der blöden Kröten? Nur um ihre viel zu teure Wohnung bezahlen zu können?
Ihre Laune sank gegen den Nullpunkt, als auch noch Nebel aufzog. Kleine Pilze
bildeten einen Ring auf der Wiese neben dem Weg. Ein deutliches Zeichen, dass es
Herbst geworden war. Ein feuchter und ein wenig kalter Herbst, nach einem sehr
trockenen Sommer. Die Blätter an den Bäumen waren schon ganz rot. Die Bäume
ließen ihre Zweige hängen. Sie taten Malwina fast leid. Ob sich die Bäume auch
so traurig fühlten, wie sie? Blätter rieselten herab, blieben auf dem Boden
liegen und der Wind verteilte sie über die gemähten Rasenstücke im Park.
Gärtner waren noch keine da um diese Zeit, die die Blätter zu fein säuberlich
geschichteten Haufen auftürmten.
Malwina wickelte sich fester in ihren roten Schal. Ihr war
kalt. Ihre Finger klammerten sich um die Tasse ihres Coffee-to-Go, den sie auf
dem Weg zur Arbeit im Stehcafé der Bäckerei gekauft hatte, in ihrer eigenen Thermotasse.
Langsam trabte sie den Kiesweg entlang. Die Steine knirschten unter ihren
Stiefeln, sonst war es still. Es war ja erst halb acht Uhr morgens, also
ziemlich früh. Die Leute würden erst später kommen, den Park bevölkern, ihre
Hunde spazieren führen, ihre Kinder in den Kindergarten bringen. Malwina
seufzte tief. Sie sollte sich nicht so gehen lassen. Es war ja gar nicht so
schwer. Immerhin hatte sie einen Job. Viele ihrer Freundinnen hatten keinen.
Eigentlich wäre Malwina lieber für ein Jahr nach Neuseeland gegangen. Neuseeland
war ihr Traumland. Da wollte sie unbedingt einmal hin, aber sie konnte es sich
nicht leisten. Ihre Eltern waren leider nicht reich, kamen kaum klar mit dem,
was sie verdienten. Das tat Malwina weh. Sie liebte ihre Eltern. Es waren
herzensgute Menschen, die lieber anderen halfen, als sich selbst etwas zu
gönnen. Malwina hätte ihnen so gerne geholfen, aber das konnte sie leider
nicht. Sie konnte ja nicht einmal sich selbst ausreichend versorgen. Ihr Job in
der kleinen Spedition, auf der anderen Seite des Parks, war nicht besonders gut
bezahlt. Nach ihrem Abitur hatte Malwina eine Ausbildung zum Speditionskaufmann
gemacht und war nun verantwortlich dafür, dass genügend Aufträge hereinkamen,
damit die speditionseigenen Lastkraftwagen ausgelastet waren. Den Job hatte sie
sich ursprünglich anders vorgestellt. Sie dachte, dass sie wenigstens auf
diesem Weg etwas mehr von der Welt mitbekam, aber die Fahrer waren allesamt
nicht sehr gesprächig und diejenigen, die auch weiter in den Orient mit ihren
LKWs reisten, berichteten nur über die Schwierigkeiten, die sie auf den oftmals
gefährlichen Straßen dieser Länder hatten. Auch die Kollegen, die in der
Geschäftsstelle in Neuseelands Hauptstadt Wellington arbeiteten, erzählten gar
nichts, wenn sie zurückkamen. Malwina traute sich nicht, sich für eine Stelle
dort zu bewerben. Ihr Chef schickte lieber männliche Kollegen, die er für durchsetzungsfähiger
hielt. Doch dies hier war nicht, was Malwina gewollt hatte. Sollte ihr Leben so
weitergehen? Bis zum Schluss? Malwina grauste es vor diesem Gedanken. Sie war
ja erst zweiundzwanzig und das hier sollte schon alles gewesen sein? Wenn sie
doch mehr Mut hätte! Dann würde sie einfach alles hinwerfen und losziehen. Ihre
Laune war durch die Grübelei wahrhaft nicht besser geworden. Malwina schimpfte
sich einen Idioten. Sie sollte sich nicht ständig beklagen. Immerhin hatte sie
ein Auskommen und nette Kollegen, denn sie war die einzige Frau in der
Spedition.
Endlich war sie da, bei ihrer Bank unter der großen, alten
Eiche, auf die sie sich jeden Morgen für eine halbe Stunde setzte, um den Blick
über den Park zu genießen. Bevor sie sich in die Betonwüste des
Industriegebietes begab, wollte sie die Natur fühlen. Malwina liebte Bäume, je
mehr desto besser. Deshalb war sie auch so vernarrt in Neuseeland. Kühles
Wetter machte ihr normalerweise nichts aus. Warum sie ausgerechnet heute damit
ein Problem hatte, wusste sie nicht. Vorsichtig setzte sie sich auf die etwas
feuchte Bank und nahm den Deckel von ihrer Kaffeetasse ab. Den Deckel steckte
sie in ihre Jackentasche. Dann nahm sie einen kleinen Schluck. Der Kaffee war
noch heiß. Die neue Thermotasse war wirklich Klasse. Zufriedenheit begann sich
in ihr zu regen. Es war das gleiche Gefühl, welches sie hatte, wenn sie nach
einem langen, anstrengenden Arbeitstag eine heiße Gemüsesuppe aß.
Langsam ließ Malwina ihren Blick über die Landschaft schweifen.
Die Parkanlage war im englischen Stil angelegt. Von dem kleinen Hügel aus,
dessen Hang sanft zu einem winzigen Teich abfiel, konnte sie alles gut
überblicken. Am Ufer des Teichs stand ein kleiner, weißer Pavillon. Reste von
Seerosen schwammen auf dem Teich und ein paar Blätter, die der Wind herangeweht
hatte. Weiter hinten gab es ein kleines Wäldchen. Wege schlängelten sich sanft
über die Grasflächen. Dieser Teil des Parks hatte etwas Verwunschenes, Unwirkliches
an sich. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag sitzen geblieben, aber das ging
natürlich nicht. Außerdem war diese morgendliche halbe Stunde kostbar und
sollte keine Gewohnheit werden. Malwina nippte an ihrem Kaffee.
Ihr Blick fiel auf den Boden. Unter ein paar Blättern lugte
eine Eichel hervor. Malwina stellte die Tasse auf der Bank ab und bückte sich.
Vorsichtig zog sie die Eichel unter dem Blätterteppich heraus. Es war nicht nur
eine, sondern drei. Sie hingen aneinander. Drei Eicheln. Verzückt betrachtete
Malwina die drei hellbraunen, länglichen Nüsse mit der kecken Kappe oben drauf.
Sie konnte sie zwar nicht essen, Eicheln schmeckten nicht gut, wegen ihrer
Bitterstoffe, aber sie würde sie trotzdem mitnehmen und neben ihr Bett legen.
Schade, dass ihr diese Nüsse keine Wünsche erfüllen würden, so wie im Märchen.
Vermutlich waren Eicheln auch die falschen Nüsse für so etwas. Im Märchen waren
das Haselnüsse, aber Malwina war sich da nicht ganz sicher. Es war ja auch
egal, schließlich gab es so etwas in der Realität ohnehin nicht. Aus diesen
Nüssen würde keine Kutsche, ein Pferd, Mäuse und ein tolles Kleid werden. Und
den Prinzen gab es schließlich auch nicht. Dem war Malwina ja noch nicht einmal
begegnet. Sie schob die Nüsse in die Tasche ihres Mantels.
Als sie nach ihrem Kaffee greifen wollte, hielt sie
verwundert inne. Auf der Bank neben ihr, ganz am Ende, saß ein Eichhörnchen und
blickte sie mit seinen dunklen Augen zutraulich an. Malwina hielt die Luft an
und rührte sich nicht. Das Eichhörnchen hüpfte nervös auf der Bank hin und her
und beobachtete sie. So schien es Malwina, aber das war sicher Einbildung, doch
ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Ob das Eichhörnchen wegen der Eicheln
da war? Malwina überlegte nicht lange. Vorsichtig zog sie die drei Eicheln aus
der Tasche. Das Eichhörnchen richtete sich auf seinen Hinterpfoten auf und
blickte nervös auf die Nüsse. Langsam streckte Malwina ihren Arm aus, ganz
langsam, um das hibbelige Tierchen nicht zu erschrecken. Das Eichhörnchen
dachte nicht an Flucht. Es war sehr mutig. Mit einem raschen Satz hüpfte es die
Bank entlang und pflückte mit seinen kleinen Pfoten die Eicheln aus Malwinas
Hand. Dann jagte es mit einem leisen Keckern über die Wiese hinter der Bank
davon, zu dem Arboretum, in dem große, uralte Bäume standen. Ein morgendlicher Lichtstrahl
schoss durch die Wolken herab und kleidete die Szenerie in ein helles,
freundliches Licht. Malwina lächelte und fühlte sich plötzlich glücklich. Dann
stand sie auf und ging beschwingt den Weg entlang in ihre Arbeit. Heute würde
sie ihren Chef fragen, ob sie dieses Mal nach Neuseeland durfte, in die
Auslandsgeschäftsstelle. Es wurde Zeit genauso mutig zu sein, wie das
Eichhörnchen. Das Leben wartete auf sie.
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