Freitag, 17. Mai 2019






Das letzte Baby

Bleich stand die junge Frau am Grenzwall und sah über den träge dahinströmenden Fluss. Die Grenze gab es schon, seit sie denken konnte. Einst wurde sie gebaut, um Menschen auszusperren. Jetzt war sie nur noch da, um sie in diesem Land einzuschließen.
Mit fahrigen Bewegungen streichelte sie ihren runden Bauch. Das Kind strampelte sachte. Sie spürte das Füßchen, das gegen ihre Bauchdecke stieß. Ihr Blick wanderte sehnsüchtig zur anderen Seite hinüber, die durch den feuchten Nebel wirkte, als wäre dort ein Märchenland. Fern und unerreichbar, dabei waren es doch nur ein paar Meter.

Hinter ihr raschelte es im Gebüsch. Ihre Großmutter, genauso in weiß gekleidet wie sie, trat neben sie. Weiß, die Farbe der Verdammten. Traurig legte die alte Frau eine Tulpe auf den Hügel des Grabes, in dem ihre andere Enkelin begraben war, zusammen mit dem Baby, gestorben gleich nach der Geburt. Dann nahm sie die junge Frau tröstend in den Arm und gemeinsam betrachteten sie die Kreuze, die sich bis zum Horizont erstreckten. Ein verfluchter Grenzwall des Todes, sichtbares Zeichen der Gleichgültigkeit vergangener Generationen.
Eine Träne kullerte der jungen Frau über die Wange und fiel auf ihren Bauch mit dem letzten Baby dieses Landes darin. Sie würde hier mit ihm sterben, genau wie die anderen, denn nichts auf ihrer Seite der Grenze konnte die supermultiresistenten Keime in ihrem Körper abtöten.
Ihre letzte Hoffnung war das alte Boot. Die dort drüben hatten versprochen neue Medikamente zu schicken. Wo blieb es denn nur?

Copyright by Lara Elaina Whitman. Fotomontage Lara Elaina Whitman (eigene Bilder)

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